Digitale Assistenzsysteme „Made in Saarland“
So lange wie nur eben möglich sicher in den eigenen vier Wänden bleiben. Das ist nicht nur der Wunsch der allermeisten Senioren und ihrer Familien; sondern auch ein ökonomisches und gesellschaftliches Anliegen. Wie können wir die „Digitalisierung“ nutzen, um genau dies umzusetzen?
Gemeinsam mit zwei Unternehmen aus dem Saarland, der 1.A Connect GmbH, Anbieter von innovativen IT Produkten und Devita GmbH, einem saarländischen Hersteller von Pflegesesseln , hat sich die Forschungsgruppe RI-ComET unter Leitung von Prof. Martin Buchholz genau dieser Fragestellung angenommen. Das Ergebnis: der erste Digitale Pflegesessel, hergestellt von der Devita GmbH. Unter anderem unterstützt dieser Pflegesessel altersgerecht die Kommunikation mit der Außenwelt , beinhaltet die vom Projektpartner 1.A Connect selbst entwickelte „Hallo“ App, mit der Senioren einfach und schnell kurze Nachrichten versenden können, erlaubt die Detektion von Vitalparametern und das Steuern von Licht, der Heizung oder der Jalousie.
Neben diesem Zubehör für Pflegesessel werden weitere digitale Assistenzsysteme für Senioren erforscht und entwickelt, die z.B. bei einem Rollator eingesetzt werden können.
Innovative Technik nur die junge Menschen?
Wearables, also am Körper getragene Minicomputer mit Sensoren, die etwa Daten zu Bewegung oder Ernährung aufzeichnen, sind heute einer der größten Elektronik-Wachstumsmärkte. Angefangen hat die Entwicklung als Gesundheits- und Fitness-Monitoring für den gelegentlichen Gebrauch. Mittlerweile verbreiten sich persönliche Medizingeräte rasant, die in der Lage sind, Gesundheitsindikatoren wie Blutdruck- oder Zuckerwerte genau zu messen.
Anwendungen findet diese moderne Technologie heute meist in Smartwatches, Fitness-Armbändern und in einigen wenigen noch exotischen Gadgets wie Datenbrillen oder vernetzte Kleidung (biometrische T-Shirt zur Messung von Herz- und Atemfrequenz, verbrannter Kalorien und zurückgelegter Schritte). Schon heute nutzen viele Menschen Activity-Tracker, um mehr über die eigenen Gewohnheiten zu erfahren und den Tag gesünder zu gestalten. Die Technologie, die ursprünglich im Fitnessbereich begann, wird mehr und mehr auch für Gesundheitsvorsorge, Medizin und Pflege eingesetzt werden.
Neue Sensoren und komplexere Signalverarbeitung erlauben dabei immer mehr Parameter nicht-invasiv aufzunehmen und auszuwerten. Einsatzbereiche sind dabei:
- Wellness und GesundheitsMonitoring
- Überwachung und Alarmierung bei Sturz oder gesundheitlichen Problemen
- Rehabilitation im heimischen Umfeld
- Frühe Detektion medizinischer Störungen
Warum nicht aber auch diese Technologie in altersgerechten Assistenzsystemen (AAL) einsetzen?
Insbesondere Faktoren wie
- Verfügbarkeit und fallende Kosten der Sensoren und Embedded Systeme
- Miniaturisierung der Elektronik
- Integration der Sensoren in Consumergeräte und Accessoires
- Anstieg der älteren Bevölkerung (demographischer Wandel) und damit einhergehend Anstieg von chron. Störungen und Krankheiten
- Anstieg im Fern-Monitoring von Patienten im heimischen Umfeld
- Notwendige Reduktion der Gesundheitsund Pflegekosten
- Qualität der Pflege
- Haftungsfragen bei Pflegeeinrichtungen
- Steigende Akzeptanz von Monitoring, Smartphone und Internet Technologie
verdeutlichen, dass über neue AAL Produkte nachgedacht werden muss.
Partnerschaft zwischen einer Forschungsgruppe der htw saar, einer KMU und einem Handwerksbetrieb
Die Zusammenarbeit der Forschungsgruppe RI-ComET aus dem Bereich der Elektro- und Informationstechnik der htw saar mit 1.A Connect GmbH kann bereits auf eine jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit zurückblicken. „Innovation und Technik machen Menschen das Leben leichter. Das ist unser Ansatz. Mit dem Einsatz von neuen Technologien und modernen Systemen erarbeiten wir Lösungen und Produkte für das Pflege- und Gesundheitswesen. Im Mittelpunkt stehen die Anforderungen unserer Kunden und die Sicherheit der Systeme“, sagen Prof. Astrid Mühlböck und Klaus Mühlböck, Geschäftsführer von 1.A Connect GmbH. Immer schon standen in der Vergangenheit der Zusammenarbeit mit 1.A Connect Produktentwicklungen aus dem Bereich Gesundheit und Pflege im Fokus der Bemühungen. Die in dieser Zeit gemeinsam entwickelten Produkte, wie eine altersgerechte App fürs Tablet mit dem Namen ‚Hallo!‘ oder die Open Hardware und Software-Plattform „FunkPi“ für proprietäre Funkanbindungen finden dabei nun ihre Anwendung im Digitalen Pflegestuhl.
Dass ein regionaler Handwerkbetrieb, die Devita GmbH, Experte auf dem Gebiet der Herstellung von Pflege- und Aufstehsessel, als Projektpartner gewonnen werden konnte, erweist sich als Glücksfall. Somit sind nicht nur die Marktanforderungen bestens bekannt sind, sondern die Hardware Entwicklungen und Software Lösungen können auch direkt umgesetzt und getestet werden. „Bei Devita wissen wir, dass nicht nur in Seniorenheimen oder Pflegeeinrichtungen spezielle Ausstattung her muss und ein angenehmes Wohnambiente geschaffen werden soll. Auch in den eigenen vier Wänden oder in privat eingerichteten Bewohnerzimmern von Heimen braucht es bequeme, hochwertige und in vielen Fällen auch besonders funktionale Seniorenmöbel, die im Idealfall noch zum Einrichtungsstil passen“, sagt Frank Dewes, Geschäftsführer der Devita GmbH.
Digitaler Pflegesessel
Viele ältere Menschen verbringen einen Großteil ihrer Tageszeit in einem Pflegestuhl oder -sessel. Pflegesessel eignen sich als Unterstützung bei der Pflege auf geriatrischen Abteilungen, in Altenheimen, Pflegeheimen, Seniorenheimen und Seniorenresidenzen. Darüber hinaus sind sie eine Hilfe für pflegende Angehörige. Ziel dieses Projektes war von Beginn an, ein weiteres praktisches Zubehör zu entwickeln, mit dessen Hilfe sich neue Funktionalitäten der Sessel installieren lassen und bestehende Funktionalitäten optimiert werden können.
Insbesondere wurde dabei ein Bedienterminal und Sensorelektronik zur besseren Betreuung älterer Menschen in der Pflege entwickelt und die Überwachung von Vitalparametern und Aktivitäts-Monitoring im heimischen Umfeld ermöglicht.
Dabei wird ein einfaches, kostengünstiges Tablet mit einem Touchscreen mit altersgerechter Oberfläche ausgestattet, das es dem Pflegebedürftigen erlaubt, mit einem Klick einen Telefonanruf zu tätigen oder einen Alarmruf abzusetzen. Die dazu benötigte Elektronik (Embedded System, GSM oder LTE Modem) ist dabei im Innern des Sessel unsichtbar verbaut, ebenso wie die dafür benötigte Stromversorgung.
Großer Entwicklungsaufwand wurde betrieben, das Telefonieren möglichst seniorengerecht durchführen zu können. Kein umständliches Hantieren mit einem Mobiltelefon ist zukünftig mehr nötig, sondern ein einfacher Klick auf den Touchscreen genügt. Selbstverständlich wird dabei eine Freisprecheinrichtung unterstützt. Die dafür benötigten Lautsprecher und Mikrofone sind im Kopfteil des Stuhls integriert.
Über den Touchscreen und einer eingebauten Funkelektronik, wobei sowohl proprietäre Funkprotokolle, als auch WLAN und Bluetooth unterstützt werden, können aber auch Sensoren vom Pflegebedürftigen oder Pflegepersonal abgefragt (Ist eine Tür oder die Fenster verschlossen?) oder Aktoren angesprochen werden (Licht an/aus, Temperaturregelung, etc.).
Ein weiterer Schwerpunkt bei der Entwicklung war die Entwicklung von Elektronik zur Erfassung von Vitalparametern, wie zum Beispiel den Puls des Pflegebedürftigen, mit möglichst geringer Beeinträchtigung im Pflegestuhl und die automatische Alarmierung des Pflegepersonals oder der pflegenden Angehörigen bei ungewöhnlichen Abweichungen. In der ersten Version wurde dabei ein völlig neuer Beschleunigungssensor in die Rückenlehne des Pflegesessels verbaut, der nicht nur eine kontaktlose Aufnahme von Herzschlag und Atmung der im Stuhl sitzenden Person erlaubt, sondern auch für ein Aktivitäts-Monitoring die relevanten Daten liefern kann.
Für zukünftige Versionen kann man sich die Integration eines Pulsoxymetrie-Sensors zur Messung der Sauerstoffsättigung ebenso vorstellen, wie die eines Feuchtigkeitssensors zur Vorbeugung von Dekubitus Schädigungen. Selbstverständlich kann das Tablet auch für weitere Funktionen genutzt werden. Eine Übersicht und Erinnerungsfunktion für die Einnahme von Medikamenten kann beispielsweise ebenso unterstützt werden, wie das Nutzen des Internets.
DigiRoll
Während die Fertigstellung der ersten Version des
Aufbauend auf den Erfahrungen bei der Entwicklung des Digitalen Pflegestuhls wird in diesem Projekt erarbeitet, was der Rollator in Zukunft alles leisten soll.
Generell erschließen sich für den Rollator durch neue Technologien ganz andere Anwendungsfälle. Beispielsweise soll er bei der Fortbewegung Unterstützung leisten, beim Überqueren eines Bürgersteiges oder dem Finden des optimalen, altersgerechten Weges oder auch einer nahen Toilette behilflich sein. Frühwarn-Systeme wie Ultraschall oder optische Erkennung sollen vor Gefahren und Hindernissen warnen. Über einen integrierten GSM/GPS-Tracker kann der Standort des Nutzers an eine Notrufzentrale oder einen Angehörigen mittels Notfall-Button übermittelt oder in einem Notfall der Rollator auch automatisch geortet und Hilfe gerufen werden. Wie bei dem Digitalen Pflegestuhl soll auch hier durch die Nutzung der entwickelten „Hallo App“ eine einfache Kommunikation möglich sein, bzw. in einer weiteren Ausbaustufe über Sensoren am Rollator die Vitalwerte gemessen und ggfs. weitergeleitet werden. Insbesondere soll der Rollator auch mit einem energieeffizienten Akku Pack und einem Batteriemanagement derart ausgestattet werden, dass ein komfortables, möglichst kontaktloses Aufladen ermöglicht wird.
Die benötigten Hardwareentwicklungen beider hier vorgestellten Projekte korrelieren dabei sehr gut mit den Kompetenzen der Forschungsgruppe RI-ComET, d.h. der Entwicklung von Telemetrie-Anwendungen, die kontaktlose Energie- und Datenübertragung und die Echtzeit-Implementierung von Bildererkennungsalgorithmen.
Für die Lehre und Forschung ist die Kooperation mit Unternehmen aus der Region eine wichtige Aufgabe. Sie bietet viele Impulse für unsere Ausbildungsarbeit und ermöglicht den Studierenden wichtige Erfahrungen für den Berufseinstieg zu sammeln. In der Kooperation mit der 1.A Connect GmbH konnten wir bereits mehrere Projekte sehr erfolgreich umsetzen. Dabei hilft uns besonders die hohe Kompetenz, langjährige Erfahrung und Flexibilität des Unternehmens in der Software-Entwicklung.
Text: Prof. Dr. Martin Buchholz